Glaubenszweifel sind etwas, was nahezu jeden Christen begleitet - mal
weniger, mal mehr, in unregelmäßigen Abständen. Man
fühlt, dass mit dem eigenen Weltbild irgendwas nicht stimmt,
weiß aber nicht so genau, was es ist. Man plagt sich mit
Widersprüchen, Ungereimtheiten, vermisst Konsistenz und
Verlässlichkeit der eigenen Basis. In geschlossenen Weltbildern finden
sich überall Ecken und Kanten, die so etwas immer mal wieder
herausfordern.
Was ist mit Atheisten? Haben die nie Zweifel
an ihrem Weltbild? Beschäftigt uns nie die Frage, ob es denn alles so
stimmt, wie es für uns Wahrheit ist? Kommt nie die Frage auf: was ist,
wenn es doch stimmt?
Ich vermute, dass es vielen Atheisten nicht anders geht als
mir. Die Frage, was denn sei, wenn es doch wahr ist, wird sofort gefolgt
von der Frage: was denn genau? Was genau stimmt denn doch, welcher Gott,
welche Wahrheit aus dem breiten Angebot der vielen absoluten Wahrheiten
bringt denn mein logisch stimmiges Weltbild ins Wanken? Ist es vielleicht
der Buddhismus? Was wäre, wenn der wahr wäre - würde ich
dann tatsächlich wiedergeboren? Der Gedanke daran ist verlockend - es
gäbe dem Leben einen ganz anderen Sinn - aber welche Hinweise habe
ich, dass das wirklich wahr ist? Sind es mehr Hinweise als die, die ich im
Christentum für das ewige Leben nach dem Tode finde?
Oder ist alles, was gelehrt und auf was gehofft wird, nur innerhalb dieses
Weltbildes wahr? Und wenn ja, welchen Einfluss kann es dann auf mich haben?
Wieso sollte ich mich für Weltbild A oder B entscheiden? Dürfen
meine Wünsche entscheiden - möchte ich lieber wiedergeboren
werden oder doch lieber bei Gott ewig leben?
Alle diese Fragen müssen geklärt werden, bevor ich mein Weltbild
in ernsthaft Frage stelle. Was würde mich mehr ansprechen? Am Ende
stehe ich dann vor dem (immer vorläufigen) Ergebnis: Ich kann nur nach
meinen Wünschen entscheiden, und meine Wünsche beeinflussen
leider nicht die Realität.
Insofern müsste ich bei jedem Wahrheitsangebot schauen, ob dort
dieselben logischen Kanten drin sind wie in anderen geschlossenen - auch
atheistischen - Weltbildern. Und finde ich Widersprüche, finde ich
Hinweise, dass meine Wünsche nur dann wahr werden, wenn ich dieses
Weltbild als Ganzes annehme - dann kann ich es ehrlicherweise nur ablehnen
- denn von meinen Wünschen wird sich die Realität leider nicht
beeinflussen lassen - jedenfalls nicht so fundamental.
Was ist mit dem Christengott? Überall um mich herum haben Menschen
eine Wahrheit akzeptiert, die ich nach wie vor für mich ablehne.
Zweifel, dass es doch einen liebenden Gott geben könnte, habe ich
eigentlich nie gehabt - vor allem nicht, als meine Großmutter an
Krebs erkrankte ... bis sie starb, habe ich sie leiden sehen ... mir wurde
klar, dass es einen Gott der Liebe für mich nicht geben konnte - schon
gar nicht, als sie starb. Wo sollte sie lieber sein wollen als bei uns -
gerade bei ihrem kleinen Urenkel, den sie mehr liebte als alles auf der
Welt? Jedes Mal, wenn wir sie besuchen waren, saß sie während
seines Mittagsschlafes an seinem Bett und hat ihn zwei Stunden einfach nur
angesehen. Mann, hat sie dieses Kind geliebt! Niemand, der sie wirklich
liebte, konnte ihr das nehmen.
Zudem ist es für mich jedes Mal klar, wenn ich die Nachrichten
einschaltete. Rein vernunftsmäßig kann es für mich diesen
Gott nicht geben. Der Widerspruch, der sich aus Leid und Liebe auf dieser
Welt ergibt, kann nicht gelöst werden - und der steht für mich
felsenfest vor jedem möglichen Zugang zu einem Gott. Auch kann ich
diese Frage nicht aufschieben - ungeklärte Fragen sind keine Basis
für Vertrauen - weder zu einem Gott noch zu einem Menschen.
Was aber ist mit allen diesen Leuten, die trotz dieser Widersprüche an
Gott glauben? Sind die jetzt alle verrückt? Einer Illusion erlegen?
Wie erkläre ich mir die ungeheure Kraft, den Mut, den Lebenssinn, den
so viele Leute aus dem Glauben ziehen? MUSS da nicht einfach was dran
sein?
Und wieder die Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den konkreten
Inhalten der Wahrheiten (Jesus, Gott, Allah, Krishna, positives Karma ...)
und dem, was die Leute tun? Je länger ich mich damit beschäftigt
habe, desto mehr komme ich zu dem Schluss: Es ist nicht der Inhalt dessen,
an was man glaubt, es ist die Tatsache, dass man einen
Inhalt hat, einen Halt, Menschen, die einen darin unterstützen, dass
man dazu gehört, sich im Glauben und in der Gemeinschaft wohl
fühlt und durch Rituale und Gemeinschaft immer wieder genau darin
bestätigt wird.
Dann sehe ich es also rein vom Nutzen her - Glaube (egal welcher) gibt
vielen Leuten Kraft - auch wenn er inhaltlich falsch und
eigentlich unhaltbar ist? Wie gehe ich denn mit diesem Widerspruch um? Darf
ich es akzeptieren, dass es so viele Leute gibt, die aus Unwahrheiten und
unbewiesenen Behauptungen Kraft beziehen?
Ich trug mich lange mit dem Gedanken, möglichst viele Christen vom
Glauben abzubringen. Es MUSS ihnen doch einfach was bringen, DIE
Erkenntnis, DIE Erleichterung, DEN Vernunftszuwachs! So steckte ich viel
Kraft in Missionierung zur anderen Seite. Ich habe eine Menge Leute in
Glaubenskrisen gestürzt, einige haben sich deswegen von mir
abgewendet. Das tut mir heute unendlich Leid. Ich habe Leute traurig
gemacht, habe ihre Basis in Frage gestellt, wollte sie um jeden Preis von
meiner Wahrheit überzeugen - war für mich doch klar: Unglaube
löst die Probleme, die der Glauben schafft, und noch viel mehr. Und
mir geht es ja auch gut dabei.
Auf diesem meinem Weg der Auseinandersetzung sind mir viele Leute begegnet
- Christen und Atheisten, und es gab einige
Schlüsselerlebnisse, die mich letztendlich zu meiner heutigen Haltung
bewegt haben ...
Zum einen habe ich mit vielen Christen mehr gemeinsam als mit vielen
Atheisten. Die
Lebensart, das Lebensgefühl, die Gefühlstiefe, die
Freundlichkeit, die Liebe zu Kindern und die hohe Wertschätzung von
Freundschaften, das bewusster Leben, das Zurückstellen von
Materiellem, alles zusammen ... ich denke heute, dass es für uns alle
sehr hilfreich ist, wenn man immer wieder an die wirklich wichtigen Dinge
des Lebens erinnert wird ... und ich denke schon, dass uns Atheisten die Gemeinschaft auf
der Basis eines gemeinsamen Lebensgefühls fehlt.
Ich habe viele Christen näher kennen gelernt und einige sind mir zu
wertvollen Freunden geworden - auch wenn wir kaum über den Glauben
sprechen. Ich habe Leute erlebt, die sich bewusst von Glauben und Kirche
abgewendet haben und Leute, die damit nie etwas zu tun hatten. Für
viele war es das Loslösen von Autoritäten und Vorschriften, die
sie in ihrem Leben sehr eingeengt hatten. Von daher ist es
verständlich und richtig, den Glauben kritisch zu hinterfragen und
auch aufzugeben, wenn die Contras die Pros überwiegen.
Und auch hier habe ich einiges an ziemlich unschönen Haltungen erlebt:
eine radikale Abkehr vom Glauben, welche nicht nur den Glauben und die
Fehler der Kirche, sondern auch die positiven Aspekte des Glaubens und der
Gemeinschaft negieren und den Glauben am liebsten abschaffen würden.
Viele Leute, die sich sehr stark über ihren Unglauben definieren,
fallen dann in ein anderes Extrem: Glaube sei in jedem Fall schlecht, und
wer ihn verliert, der findet in jedem Fall zur Vernunft. Das gelte für
alle, und weil der Atheismus wahr ist, müsse das
auch für alle gut und richtig sein. Religiöses Denken auf
atheistisch.
DAS sollte also auch die schillernde Alternative zum Glauben sein? Es nagt
nach wie vor in mir ... was ist mit meiner Wahrheit los? Die meisten meiner
Freunde und meine ganze Familie sind ungläubig, und wenn ich eine
Person als Ideal vor Augen habe, dann war es meine ungläubige
Großmutter ... die mir und meinem Kind so viel Liebe entgegen brachte
... und heute ziehe ich am meisten den Hut vor meinem Mann, der trotz
seiner nervenaufreibenden Arbeit immer Zeit für uns hat und uns
liebevoll behandelt, und vor meiner Schwiegermutter, die ihr Leben lang
für ihre Familie lebt und heute, wo ihre drei Kinder aus dem Haus
sind, immer ein offenes Ohr für jeden hat und neben ihrer Arbeit ihre
91jährige Mutter zu Hause pflegt - kaum schläft ... und sich
trotzdem niemals beklagt. Das sind auch Atheisten.
Wohin also jetzt mit dieser meiner atheistischen Wahrheit, kann ich also
vom einzig wahren Weltbild sprechen? Lande ich nicht in einem Relativismus,
wenn ich sage, dass jeder seine Wahrheit hat und haben sollte? Dass das
Christentum für manche genauso wahr sein kann wie der Atheismus?
Heute denke ich, nicht das Weltbild ist entscheidend, sondern das, was
derjenige daraus macht. Ein George Bush, der gegen das Böse und mit
Gottes Segen in den Krieg zieht, ist genauso verachtenswürdig wie
ideologische Christenverfolger.
Natürlich ist meiner Meinung nach wie vor der Atheismus wahr, aber eben nicht das
einzig richtige Weltbild für jeden. Wir haben doch genug Baustellen,
um den Glauben zu kritisieren, uns damit auseinander zu setzen, die Ecken
und Kanten abzuschleifen und die Extreme, ohne gleich alles pauschal zu
verdammen.
Wer den Glauben verliert, weil die Zweifel zu stark werden, wer zu der
Erkenntnis kommt, dass es einen liebenden Gott einfach nicht geben
kann - ist für den gleichzeitig die Gemeinschaft
gestorben oder das Prinzip der Nächstenliebe? Warum wird dann der
Einzelne so wichtig und die Gemeinschaft mit Leuten, die man sich nicht
alle selbst ausgesucht hat, zur Zumutung? Warum ist der Austausch zwischen
den Weltbildern so stark von der Betonung der Unterschiede geprägt und
so wenig von der Suche nach Gemeinsamkeiten und Kompromissen?
In einer Gesellschaft, wo es glücklicherweise keinen Zwang zu einem
bestimmten Weltbild gibt, sind wir auf Kompromisse angewiesen. Die
Kompromissbereitschaft fördern wir aber nicht, indem wir immer wieder
die Unterschiede betonen und uns gegenseitig die Schuld für die
Übel der Welt zuweisen. Glaube gegen Wissenschaft, Vernunft gegen
Unvernunft, Wahrheit gegen Lüge - verhärtete Fronten helfen nicht
weiter.
Wir leben doch alle auf dieser Erde, und sitzen alle im selben Boot - nur
eben nicht auf derselben Seite - und das ist verdammt gut so.
Warum aber finde ich dann diese Seite hier gut? Warum unterstütze ich
es, wenn der Glaube logisch auseinander genommen und auf eine brillante Art
und Weise in Zweifel gezogen wird?
Wer mal nach der Auseinandersetzung mit Glaubenszweifeln gesucht hat, wird
diese vielfältig finden - nur habe ich keine gefunden, die nicht
darauf ausgerichtet ist, dem Zweifelnden die Freiheit zu lassen, den
Glauben auch abzulegen. Glaubenszweifel sind für die meisten dieser
Schriften nur zu einem gut - den Glauben zu festigen. Das kann meiner
Meinung nach nicht die einzige Lösung sein - man muss jedem auch die
Option offen halten, sich vom Glauben zu lösen - wenn er sich in einer
logischen Aufarbeitung der Widersprüche besser wiederfindet als in der
emotional doch sehr ansprechenden Kirche. Daher finde ich es gut und sehr
wichtig, dass diese Möglichkeit für alle besteht - mit offenem
Ausgang.
Wichtig ist nur wieder, was man zwischenmenschlich mit der jeweiligen
Erkenntnis macht, zu der man dann kommt. Die Erkenntnis, das Denken der
Menschen ist wichtig für die Motivation der Handlungen - aber für
alle außer einem selbst sind es die Handlungen, die zählen.
Wie auch immer die Glaubenszweifel am Ende aussehen - in einen gefestigten
Glauben münden oder zum Atheisten kommen - am Ende steht
man doch immer wieder als Mensch da.