Inhaltsverzeichnis:


      Die Gesetze der Statistik
      Die Ähnlichkeit von Börse und Glücksspiel
      Warum sollte der Börsenhandel ein Glücksspiel sein?
      Die Vorhersage zerstört sich selbst

 

Die Gesetze der Statistik

Wir haben im ersten Teil gesehen, dass sich die Gesetze der Statistik bei größeren Zahlen zwangsläufig durchsetzen, dass es nicht für kleine Zahlen gilt. Dort ist es vielmehr so, dass die Abweichungen von der Erwartung sich ebenfalls notwendig ereignen. Unwahrscheinliche Ereignisse müssen geschehen, wenn man hinreichend viele Durchgänge durchführt.

Eine Analogie gibt es beim Roulettspiel. Statistisch gesehen ist Roulette ein Nullsummenspiel: Was der eine verliert, gewinnt der andere, abzüglich von 1/36stel, der Summe, das die Bank einstreicht. Individuell gesehen ist kein Nullsummenspiel: Die Wahrscheinlichkeit, genau 1/36stel der eingesetzten Summe zu verlieren, ist nahe Null. Erst bei vielen Einsätzen kommt man in die Nähe dessen, was der statistischen Erwartung entspricht. Und man nähert sich dem nur relativ, nicht absolut. Aus dem Grund scheint die Statistik der eigenen Erfahrung zu widersprechen … Aus dem Anlass meinen viele Menschen, mit Anekdoten die Statistik widerlegen zu können: »Mein Opa hat wie ein Schlot geraucht, ist aber über 90 Jahre alt geworden!« – Schlussfolgerung: Rauchen ist nicht gesundheitsschädlich.

Beim Lotto beispielsweise ist die Wahrscheinlichkeit, sechs Richtige zu haben, nahe Null. Dem zum Trotz gibt es jedes Jahr ein paar Dutzend Lottomillionäre. Das individuelle Erfahrung nichts mit der Statistik zu tun hat und sie weder widerlegt noch bestätigt, obwohl das persönliche Handeln in die Ereignisse mit einfließt, widerspricht der Intuition. Man folgt gerne der Propaganda: »Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast«. Das Zitat wird Winston Churchill zugeschrieben, es existieren keine Belege, dass er es gesagt hat _1_.

Bei Glücksspielen findet langfristig ein Ausgleich aller Summen statt, minus der Kosten, die zum Gewinn der Spielbank beitragen. Damit wäre das Spiel uninteressant, wenn man es dauerhaft spielen würde. Kurzfristig kann es sich lohnen, und das macht die Attraktivität für den individuellen Spieler aus. Über einen hinreichenden Zeitraum bekommt die Bank 1/36stel der eingesetzten Geldbeträge, und das bildet den Anreiz für sie aus. Auf Dauer gewinnt nur die Bank.

 

Die Ähnlichkeit von Börse und Glücksspiel

Die Börse wurde ursprünglich geschaffen, um einen beständigen Wertausgleich zu erzielen. Sie entstand im Mittelalter aus dem Bedürfnis, einen zentralen Handelsplatz zu haben, an dem Waren ausgetauscht werden können, ohne dass sie präsent sein müssen. D. h. es wird mit Lieferversprechen gehandelt, statt mit den Produkten. Ähnlich hat sich das Geld herausgebildet: Anstatt ein Erzeugnis gegen einen »realen« Wert auszutauschen (z. B. Gold), wird mit der Barschaft ein Zahlungsversprechen verkauft und gekauft. Das ist zweckmäßiger. Anfänglich stand hinter jeder Geldsumme ein vorhandener Sachwert als Sicherheit. Im vergangenen Jahrhundert änderte man das Verfahren, jetzt ist das Barvermögen eine Schuldverschreibung.

An den Börsen haben sich vor allem Warentermingeschäfte entwickelt: Es ist das Interesse des Bauern, sein Getreide nicht auf Dauer zu lagern, sondern es sofort zu Geld zu machen. Das hatte zur Folge, dass zur Erntezeit das Getreide im Wert stark fiel: großes Angebot, relativ geringe Nachfrage. Zu anderen Zeiten schießt der Preis in die Höhe: Wenig Angebot, relativ hohe Nachfrage. Dem Problem kann man nur durch Lagerung begegnen. Nur, wie lange und wie viel an Getreide soll gelagert werden? Die Frage lässt sich nicht allgemein gültig beantworten.

Mit den Warentermingeschäften wurde das komplexe Problem gelöst: Der Spekulant versucht, das zukünftige Verhalten von Angebot und Nachfrage abzuschätzen. Je besser er das kann, umso mehr verdient er. Schlechte Spekulanten werden vom Markt eliminiert. Mit der Zeit optimiert sich das System von alleine. Die Methoden zur Vorhersage werden verbessert. Und die Warenströme verteilen sich besser über den Gesamtzeitraum. Für die Dienstleistung der Schaffung eines Ausgleichs von Angebot und Nachfrage über den gesamten Zeitraum kassiert der Spekulant eine Provision. Wir sehen hier: Das individuelle Interesse (viel Vermögen durch Spekulation zu erzielen) führt gesamtgesellschaftlich zu einem statistischen Ausgleich der Interessen und des Warenhandels. Es ist unerheblich, was die Absicht des einzelnen Akteurs ist: Insgesamt trägt es zum Ausgleich bei. Das Verhältnis manifestiert sich hinter dem Rücken des Individuums. D. h., obwohl der Spekulant gegen den Ausgleich arbeitet (er will mehr Geld verdienen als die Anderen) trägt er dazu bei. Das Verfahren hat mit der Zeit die Hungersnöte eliminiert.

Ein wesentlicher Kritikpunkt von Karl Marx an den kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen bestand darin, dass nicht der Mensch Herr seines Schicksals ist, sondern dass sich die Verhältnisse hinter dem Rücken des Individuums durchsetzen. Bislang sind die Pläne, den blinden Zufall durch menschliche Planung zu ersetzen, gescheitert. Wir können hier eine Analogie zur Evolution sehen: Hier setzen sich über den Mechanismus der Erhöhung der Fortpflanzungswahrscheinlichkeit ohne Wissen des Individuums natürliche Gesetzmäßigkeiten durch. Das gilt für die neue, menschliche Stufe der kulturellen Entwicklung ebenso, nur über andere Mechanismen. Es ist ein Zeichen kulturellen Fortschritts, Zufall durch Planung zu ersetzen. In dem Sinne kann man der marxistischen Gesellschaftskritik nicht widersprechen.

Wie man sagt: Planung ersetzt den Zufall  durch den Irrtum. Aus Fehlern kann man lernen, aus Zufall kaum.

An der Börse funktioniert der Mechanismus über die gegensätzliche Erwartungshaltung. Angenommen, ich will Ihnen ein Paket Aktien der Firma XYZ verkaufen. Warum? Weil ich annehme, dass der Aktienkurs stagniert oder sinkt. Warum kaufen Sie? Weil Sie im Unterschied zu mir denken, dass der Kurs steigt. Wären unsere Erwartungen nicht konträr, würde kein Geschäft zustande kommen.

Wenn wir beide glauben, dass der Börsenkurs steigt, würden Sie zwar das Papier erwerben wollen, nur würde ich es nicht veräußern _2_. Nehmen wir gemeinsam an, dass der Handelswert sinkt, möchte ich das Wertpapier loswerden, nur Sie wären nicht dumm genug, es anzuschaffen. Über Angebot und Nachfrage wird genau der Aktienkurs bestimmt, bei dem sich genauso viele Verkaufswillige wie Kaufwillige finden. Der Kurs schafft eine Balance der Erwartungshaltungen. Bzw. er ist der Grenzwert unserer Abschätzung der zukünftigen Entwicklungen. Hier ist unsere persönliche Haltung klar und gegensätzlich. Und auch hier findet zwar kein individueller Ausgleich statt, langfristig und statistisch gesehen geschieht genau das: Die Börse ist ein Nullsummenspiel.

Einen gewichtigen Unterschied gibt es: Während das Roulettspiel um die Summe Null schwankt (minus 1/36stel Spielbankerlös) bewegt sich der Wertpapierhandel um die allgemeine Marktentwicklung. Und die ist in der Mehrzahl der Fälle über Null! Wenn sich die Firmenerträge einer börsennotierten Firma in einem Zeitraum um 5% nach oben bewegen, erhöhen sich die Kursgewinne um denselben Betrag – im statistischen Durchschnitt, nicht im Individualfall. Aus dem Grund beträgt auf lange Sicht der Ertrag von Wertpapieren nicht null, hinzu kommt die Gewinnbeteiligung in Form einer Dividende.

Die Behauptung, die Börse sei ein reines Glücksspiel, wird von der Mehrheit der Börsianer bestritten _3_. Warum das angefochten wird (werden muss), werde ich später erklären: Im Moment interessieren nur die Indizien, die für die Aussage sprechen.

 

Warum sollte der Börsenhandel ein Glücksspiel sein?

In einem virtuellen Börsenspiel traten mehrere der Top Fondmanager gegeneinander an. Ohne Wissen der Beteiligten gab es einen zusätzlichen geheimen Teilnehmer: einen dressierten Schimpansen. Der wählte die zu kaufenden und zu verkaufenden Aktien nach seinem Gutdünken aus. Und er handelte als Aktienkäufer besser als die anderen: Er schlug sie alle! Wer würde da nicht behaupten, dass es Zufall sei, ein Glücksfall?

Ein anderes, aufsehenerregendes Aktienportfolio wurde von Börsianern in feuchtfröhlicher Runde initiiert: das Dart-Portfolio. Die zu kaufenden Aktien wurden durch (von Dart-unerfahrenen Laien) geworfenen Dartpfeilen ermittelt. Dieses Portfolio gehörte fünf Jahre zu den Top Performern an der Börse!

Jetzt werden Sie verstehen, warum ich die Experimente des Dr. Rhine anfangs ausführlich beschrieb. Man kann die (überdurchschnittlichen) Erfolge von Börsianern mit genau den gleichen drei Theorien erklären wie die Experimente des Dr. Rhine: mit einer geheimnisvollen Fähigkeit (in außersinnlicher Wahrnehmung oder wirtschaftlichem Durchblick), mit Betrug (beim Versuchsaufbau, durch Insider-Geschäfte) oder mit statistischem Zufall. Die Betroffenen neigen zur ersten Erklärung: Es handelt sich um eine spezifische Fähigkeit. Langfristig kann keiner seine Resultate wiederholen. Die Fähigkeit scheint unter mysteriösen Umständen nach einer Zeit zu verschwinden. Egal, es steigen neue Fondmanager auf, die eine spezielle Fertigkeit besitzen …

Eine Analyse der Fonddaten kann hier einen ersten Aufschluss geben: Kein Fond konnte bislang eine gute Position für lange Zeit halten. Wenn man statt der Fonds Fondmanager analysiert, ändert sich an der Feststellung nichts.

Angenommen, sie hätten eine geniale Methode gefunden, mit der sie die Entwicklung von Aktienkursen genauer vorhersagen könnten als alle Anderen. Sie verdienen damit an der Börse massig Geld. Exakt in dem Moment, wo ein anderer die Methode entdeckt oder sie veröffentlicht wird, würde sie aufhören, zu funktionieren. Schlagartig wäre die Börse genauso unvorhersehbar wie zuvor. Warum?

 

Die Vorhersage zerstört sich selbst

Gesetz dem Fall, Sie könnten Börsencrashs vorhersehen (die Vorhersage von Trendwenden ist die Herausforderung: Die Prognostik basiert ansonsten auf der Extrapolation von linearen Verläufen – eine Gerade auf einem Chart in die Zukunft zu verlängern kann jeder). Und angenommen, Ihre Strategie wäre rational begründbar, und Sie wüssten mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass Freitag nächster Woche die Börse crasht. Da die Informationen der Börse prinzipiell allen offen stehen, d. h. der Grad der Markttransparenz ist für alle gleich, Insidergeschäfte _4_ ausgenommen, ist Ihre Methode für alle anderen nachvollziehbar. Nach kurzer Zeit wüssten ALLE, dass besagter Freitag schwarz wird: In dem Fall käme der Crash (vorweggenommen) nur früher und damit für alle überraschend. Und schon wären die Verhältnisse unvorhersehbar wie zuvor.

Was für einen Börsencrash gilt, gilt in gleichem Maße für andere Kurswenden. In dem Moment, wo sie rational vorhersagbar wären, würden sie überraschend auftreten. Der Grund ist simpel: Menschliches Verhalten initiiert die Ereignisse und damit beeinflusst die Antizipation menschlichen Verhaltens die Ereignisse und die Antizipation der Antizipation trägt dazu bei usw. usf. Das Resultat: ein nicht-deterministisches, chaotisches System. Jedes Auftreten eines Determinismus führt über einen Rückkoppelungseffekt zu seiner Selbstaufhebung. Die Ergebnisse vernünftiger Methoden an der Börse sind aus dem Grund nicht reproduzierbar. Chartanalyse ist nichts weiter als Kaffeesatzleserei.

Wir haben es, wie bei den Resultaten der Experimente in ASW, mit einem irrationalen, oder präziser: einem nicht deterministischem System zu tun. Da an der Börse vieles (scheinbar) mit rationalen Dingen zugeht, beflügelt es die Fantasie der Menschen: Was wäre, wenn man rational daran gehen könnte … genau damit wird das System nicht überlistet, sondern so verändert, dass es sich nicht rational verhält.

Hinterher schlauer sein ist eine exakte Wissenschaft: Nachträglich kann man die rationale Grundlage des Systems erklären, d. h. in der Nachschau ist das System rational begründbar. Das wiederum erweckt unbegründete Hoffnungen auf eine rationale Zukunft, bei der die Erwartung die erkannte Rationalität zerstört … und der Kreislauf beginnt von vorne.

Anders gesagt: Wenn es eine logische Möglichkeit zur Vorhersage gäbe, könnte man an der Börse »Erträge aus dem Nichts« schaffen. Der Traum der Alchimisten und die Versprechung des Teufels in Faust II. Es sieht so aus, als ob es möglich sei, in dem Fall hat sich nur eine Spekulationsblase gebildet … und Zahltag ist, wenn die platzt.

Die sog. Subprime-Krise zeigt deutlich, dass sogar die Top-Geldhäuser dem Prinzip erlegen sind.


1. Siehe →Wikiquote. Siehe gleichlautend →traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Die mutmaßliche Quelle des Zitats ist eher Goebbels, der Churchill permanent als Lügner hinstellen wollte. Genaues weiß man nicht. Zurück zu 1

2. Ausnahme: Ich muss es verkaufen, weil ich das Geld brauche, oder andere Motive habe. Zurück zu 2

3. Die Anzahl derer, die das anfechten, hat seit dem Platzen der letzten Spekulationsblase drastisch abgenommen. Zurück zu 3

4. Insidergeschäfte sind Betrug, und das hebelt jedes Glücksspiel aus. Zurück zu 4


Weiter zu: Der tendenzielle Fall der Performance

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